© Neue Zürcher Zeitung; 30.09.2006 ; Nummer 227; Seite 58

Kinderreigen und kollektives Gedächtnis

Hüpfende, springende Kinder im Museum? Ein Tabubruch, der nur im Namen der Kunst keiner ist. So werden in Nagers Filmsequenz die Kinder selber zu Performern eines Kunstwerks.

Genauso wie jene bunte Schar eines Sechseläuten-Kinderumzugs, den Nager auf Video aufgezeichnet hat und in Eiltempo abspulen lässt, so dass die Marschierenden wie ein Tramzug durch Zürichs Strassen gleiten. Einen solchen Tramzug hat Bessie Nager denn auch gleichsam ins Helmhaus umgeleitet. Etwas gespenstisch steht er da, in dunklem Grau aussen, innen grell-weiss leuchtend, und unheimlich über dem Museumsboden schwebend. Seine Fenster sind die Bilderrahmen von Nagers Traumarchiv: einem Chaos von Bildern des kollektiven Bewusstseins. Fotos von Architekturelementen, Verkehrssituationen und agierenden Menschen, wie sie Nager im Internet findet, verknüpfen sich hier zu einem dichten Gewebe, das beinahe abstrakte Züge annimmt.

Philipp Meier


© Tages-Anzeiger; 03.10.2006; Seite 55

Kultur

Ich bin auch ein Tram: Die Kunstkobra im Museum

Vier Schweizer Künstlerinnen besetzen mit multimedialen Installationen das Helmhaus.


Fussgänger zwängen sich durch eine ins Stocken geratene Kolonne und versuchen hektisch, die gegenüberliegende Strassenseite zu erreichen. Auf dem Gehsteig wird geschubst, werden Ausfallschritte gewagt, flüchten Menschen vor dem sich auf Tramschienen vorwärts bewegenden Corso. Die beschleunigten Videoszenen der Installations- und Multimediakünstlerin Bessie Nager (*1962) halten nicht etwa eine Verkehrssituation fest, sondern fokussieren den Kinderumzug am Vortag des Zürcher Sechseläutens. Prinzessinnen, kleine, feine Zimmerleute und Ausländerkinder werden von Ordnungskräften ruhelos kontrolliert und kanalisiert und von bieder uniformierten, im Staccato wackelnden Blasmusikanten begleitet. Eine witzige Metapher auf die Hektik des Alltags und auf das Funktionieren der Gesellschaft im Allgemeinen: schubsen, einordnen, mitmarschieren, hintanstehen, ums Leben rennen, ausscheren.

Tram ohne Aussicht

Bessie Nager, die bereits zu den arrivierten «jungen» Schweizer Künstlerinnen gehört, beweist, wie leicht und poetisch sie Räume und Seelenräume zu gestalten versteht. Drei in Leinwandgrösse und in den Tempi unterschiedlich orchestrierte DVD-Projektionen mit zwanzig Kindern loten die Räume des Helmhauses aus: Drehmomente und Kreiselbewegungen der Menschengruppe aus der Vogelperspektive, Überblendungen beim Abschreiten eines unbesetzten Lebensraumes, Mitrennen (müssen), wenn die Masse endlos von Eingang zu Ausgang rotiert. Die Bewegungsabläufe erlauben aber auch freies Entfalten, erzählen von Verweigerung oder Orientierungslosigkeit der noch unverdorbenen Menschenseele im gesellschaftlichen Gefüge.

Spektakulär präsentiert sich Bessie Nagers praktisch in Originalgrösse nachkonstruiertes, monochromes Züri-Tram, «die Kunstkobra des Helmhauses» (Kurator Simon Maurer). Man schreitet durch grell-weisse, leere Waggons und entdeckt erst von aussen die illuminierten Fotocollagen, die aus jedem Fenster der Strassenbahn auf einen niederprasseln: Jumbodüsen, Radrennfahrer, Landebahnen, Monumente, Fussballstadien, Ornamente, Menschen und immer wieder Nachtaufnahmen «sampelt» die Künstlerin aus Internetbildern und eigenen Fotografien zu einem abstrakten Ganzen zusammen. Die beschleunigte Welt und der flüchtige Blick darauf, wo Bilder nur noch als Farben, Lichter und Formen im kollektiven Gedächtnis haften bleiben, stehen in seltsamem Widerspruch zur sprichwörtlichen Gemütlichkeit der Strassenbahn.

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Text: Feli Schindler